print.de: Herr Piller, wie definieren Sie Mass Customization?
Prof. Piller: Die klassische Definition ist die Einzelfertigung mit der Effizienz einer Massenproduktion. Aber meine praxisnahe Definition geht eher in die Richtung einer Strategie, bei der Unternehmen davon profitieren, dass ihre Kunden alle unterschiedlich sind. Die Heterogenitäten in der Kundennachfrage, also die Tatsache, dass Kunden immer mehr variantenreichere Produkte wollen, ist eine große Chance. Mass Customization ist also eine Strategie, die neues Umsatzpotenzial schafft, weil sie die darauf eingeht, dass Kunden immer individuellere Anforderungen haben.
Dabei geht es nicht um Einzelauftragsfertigungen, sondern um eine hohe Effizienz. Manche Unternehmen schaffen es bereits, mit der hohen Effizienz einer Massenproduktion individuelle Aufträge zu bearbeiten, andere befinden sich eher noch auf dem Niveau einer klassischen Einzelfertigung mit langen Interaktionsprozessen. Sieht man sich Druckereien an, dann hapert es hier mitunter weniger am Druckprozess, da ist ja viel passiert, sondern an der Abwicklung und Auftragsfreigabe.
print.de: Warum ist die Mass Customization für die Druckindustrie so relevant?
Prof. Piller: Zunächst einmal ermöglicht sie eine Differenzierung. Zwar gibt es immer noch Produkte, die ich in sehr großen Auflagen leicht erstellen kann, aber diese Märkte werden immer weniger. Durch die moderne Drucktechnik und den Digitaldruck ist es nun aber möglich, auch vertriebsseitig neue Wege zu beschreiten. Der Onlinevertrieb bietet in Verbindung mit Konfiguratoren neue Geschäftsopportunitäten, um Produkte an den Kunden zu bringen. Manche Druckdienstleister sind hier schon sehr weit und nehmen – auch verglichen mit anderen Branchen – geradezu eine Vorreiterrolle ein. In Teilen der Branche ist das aber noch nicht so ausgeprägt. Dabei bietet das Internet viele Chancen. Firmen wie Spreadshirt oder Cimpress haben es vorgemacht, indem sie Produkte für besondere Märkte geschaffen haben.
print.de: Was kennzeichnet die Frontrunner?
Prof. Piller: Ihre ausgeprägte Digitalkompetenz. Wenn man sich diese Unternehmen ansieht, dann verknüpfen sie extrem automatisierte Druckverfahren mit digitaler Kompetenz. 95 Prozent ihrer Wertschöpfungskette sind komplett digital. Der Druck wird heute anders bespielt und benutzt, als das in der Vergangenheit der Fall war.
print.de: Druckdienstleister arbeiten ja meist für andere Unternehmen. In welchen Branchen ist die Mass Customization schon am weitesten?
Prof. Piller: Wenn man sich den Konsumgüterbereich ansieht, dann sind das alle körpernahen Produkte. Da gibt es regelrechte „Flyeralarms“ etwa für Markenhemden, wo der Kunde sein Wunschprodukt konfigurieren kann. Auch die Sportartikelindustrie ist schon sehr weit. Neue spannende Fertigungsmethoden rücken hier in den Fokus. Die Lebensmittelindustrie ist in Deutschland erstaunlicherweise noch zurückhaltend, sieht man von Ausnahmen wie mymuesli ab. Und dann müssen wir natürlich die Kompontentenhersteller nennen, von denen es in Deutschland viele Weltmarktführer gibt. Das sind zu 100 Prozent Mass-Customization-Hersteller. Und selbstverständlich ist die deutsche Automobilindustrie ein klassisches Beispiel für Mass Customiziation. Wenn Sie sich ansehen möchten, welche Firmen welche Produkte individuell konfiguriert anbieten, empfehle ich die Website „configurator-database.com“. Da sehen sie 12.000 Produktkonfigurationen vom Sarg bis hin zum individualisierbaren Katzenbaum. Das ganze Leben ist dort abgebildet.
Das Spannende ist für mich übrigens nicht, dass der einzelne Konsument etwas individualisieren und konfigurieren kann. Für die Druckbranche sind eher kleinere Kollektionen im B2B-Bereich attraktiv. Hier sehe ich eine der Hauptanwendungen. Es wird mehr Unternehmen geben, die in einem kleinen Laden eine kleine Kollektion herstellen oder zumindest anbieten. Dazu braucht man Verpackungen und Promotionmaterial. Wir sprechen hier von der Zielgruppe der regionalen Händler. Für Druckereien ist das eine riesige Chance.
print.de: Über welche Fähigkeiten müssen Druckereien verfügen, um auf dem Feld der Mass Customization mitspielen zu können?
Prof. Piller: Das sind drei strategische Fähigkeiten: Erstens müssen Sie sich mit den Prozessen beschäftigen. Nur wer – unabhängig von der Stückzahl – individuelle Aufträge annehmen, dann automatisiert bearbeiten und anschließend wieder individualisiert vertreiben kann, hat eine Chance.
Die zweite Fähigkeit ist die optimale Choice Navigation des Kunden. Man könnte das mit der Konfiguration bezeichnen – dahinter verbirgt sich aber mehr. Choice Navigation meint, die Kunden so durch die Konfiguration und Auftragserteilung zu schicken, dass sie keine hohe Komplexität verspüren. Schließlich ist das immer noch der Hauptgrund für Bestellabbrüche. Im B2C soll die Choice Navigation sogar den Spaß am Selbermachen befördern.
Die dritte Fähigkeit ist die wichtigste: Sie müssen den Lösungsraum festlegen. Produzenten müssen wissen, welches das offene Problem eines Endnutzers ist. Wer nur Individualisierungen um der Individualisierung willen anbietet, der scheitert. Nur weil eine Individualisierung technisch möglich ist, macht sie noch lange keinen Sinn. Deshalb muss man den Lösungsraum genau festlegen, also genau wissen, wo die Kunden eine Individualisierung haben möchten und wo nicht. Das wird häufig falsch gemacht. Viel zu oft sind Unternehmen von ihrer Individualisierungsmöglichkeit begeistert und bieten Individualisierungen an, die aber kein offenes Problem des Kunden lösen. Wir haben 25 erfolgreiche Mass-Customization-Unternehmer befragt. Die Kernaussage war immer die gleiche: Je weniger Auswahloptionen angeboten wurde, desto mehr wurde verkauft. Es kommt auf die richtige Auswahl an – also auf die Optionen, wo Individualisierung für die Kunden Sinn macht. [4365]
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