Variable Fonts – Segen oder Fluch?

Typografie: In der Diskussion: Variable Fonts.
In der Diskussion: Variable Fonts. (Bild: Monotype Imaging Inc.)


Variable Fonts – Schriften, bei denen der Anwender quasi per Schieberegler alle erdenklichen Strichstärken durch Interpolation selbst generieren kann (automatisch und stufenlos), haben auf print.de zu einer kontroversen Diskussion über Typografie und mangelnde technische Grundlagenkenntnisse bei Mediengestaltern, Designern und Grafikern geführt. Mit Ivo Gabrowitsch vom Schriftenlabel Fontwerk nimmt nun ein Fachmann dazu Stellung und klärt über die VF auf.

 

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Typografie- & Designkenntnisse nicht mehr nötig?

 

print.de hat Ivo Gabrowitsch zum Thema Variable Fonts (VF) befragt. Er gründete Anfang 2019 in Berlin das Schriftenlabel Fontwerk und weiß, »dass überzeugende Kommunikation nur mit den ästhetisch und technisch besten Schriften gelingt.« Type-Director ist Andreas Frohloff. Beide, mit Fontshop-Vergangenheit, sind erfahrene Experten für Fonttechnik und Schriftenmarketing.

 

print.de: Eine Vielzahl von stufenlos wählbaren Schriftschnitten in einem einzigen Font – wie sieht das Bezahlmodell im Fontwerk dazu aus?

Ivo Gabrowitsch: Unser Bezahlmodell ist einfach. Alle Fontwerk-Schriften, die bereits von Hause aus als Variable Fonts zur Verfügung stehen, gibt es als jeweiliges Gesamtfamilien- oder Superfamilienpaket ohne zusätzliche Kosten. Beispiel Pangea-Sippe: Zehn Schnitte der Pangea und Pangea Text für einen Print-Nutzer, 100.000 Pageviews/Monat Web, 1.000 App-Downloads und 10.000 eBook-Downloads kosten 250 Euro, sie enthalten die Standard-Fontformate OTF, WOFF, WOFF2 und eben Variable Fonts. Darüber hinaus stehen in allen Formaten kostenlose Testfonts zur Verfügung.

 

print.de: Ist es »einfacher«, einen neuen Font gleich als VF zu bauen als einen bestehenden zu transformieren?

Ivo Gabrowitsch: Das kann man pauschal nicht sagen. Es kommt bei bestehenden Fonts darauf an, wie sie angelegt sind und welche Komplexität innerhalb der Familie oder gar Sippe herrscht. Grundsätzlich kann ein Variable Font aus einer bestehenden Familie relativ schnell hergestellt werden. Vergleicht man aber den Gesamtaufwand beim Neudesign einer Schrift, kann dieser Weg trotz des zunächst höheren Aufwands – bei der richtigen Herangehensweise – sogar ef­fektiver sein. VF sind daher nicht nur für Anwenderinnen und Anwender sinnvoll, sondern auch für die Hersteller.

 

Typografie: Ivo Gabrowitsch, Gründer des Berliner Schriftenlabels Fontwerk.
Ivo Gabrowitsch, Gründer des Berliner Schriftenlabels Fontwerk.

 

print.de: Die Anwendungsbereiche liegen wohl eher im Digitalen als beim Gedruckten …

Ivo Gabrowitsch: Prinzipiell ja. Vor allem im Webdesign, wo Ladezeiten einen signifikanten Einfluss auf Performance und Suchmaschinen-Ranking haben, spielen VF ihre Stärke der enorm reduzierten Dateigrößen aus. Aber auch in anderen responsiven Designs wie Apps sind sie statischen Fonts voraus. Viele Anwendungsfälle wurden hier noch gar nicht gedacht. Ein Beispiel dazu, was möglich ist, zeigt die Webseite www.yourtypeface.com von Rasmus Mathisen. Hier reagiert die Schrift mittels Gesichtserkennung auf den Betrachtenden. Mit ein wenig Fantasie kann man sich ähnliche »Spielereien« und Cases für Spieledesign, Werbeanimationen usw. vorstellen.

 

print.de: Sind Anwendungen auch in Print sinnvoll und denkbar? Etwa für die Suche nach dem idealen Grauwert – frei nach dem Motto: ausprobieren statt fest planen?

Ivo Gabrowitsch: Auf jeden Fall. Ausprobieren ist das richtige Stichwort. Vielleicht auch, um eine spielerische Komponente einzubringen. Schließlich darf auch Printdesign Spaß machen. Ich denke, dass Anwendungsprogramme sehr bald noch intelligenter werden und diese Technik noch besser nutzbar machen. Bereits jetzt hat man in einem einzigen File alle Möglichkeiten, für die es bisher einer Vielzahl an Fonts und Features bedurfte. Das lästige Hin- und Herwechseln entfällt. Das Font-Menü wird übersichtlicher. Ebenso entfällt die Suche nach noch immer versteckten Features wie Stylistic-Alternates (sofern im VF enthalten). Ich denke, wenn man sich erst daran gewöhnt hat, will man kaum noch zurück zu den statischen Fonts.

 

print.de: In den 1990ern gab es die Multiple-Master-Fonts. Sie haben sich damals nicht durchgesetzt. Ist die Anwendergemeinde jetzt eher bereit für ein Modell, das mit Interpolation arbeitet? Die technischen Voraussetzungen sind ja inzwischen günstiger …

Ivo Gabrowitsch: Die Voraussetzungen sind entschieden günstiger! Anders als bei Multiple Master von Adobe oder Truetype GX von Apple, die »Insellösungen« waren, haben diesmal Microsoft, Google, Apple und Adobe gemeinsam dieses Fontformat entwickelt. Das bedeutet, sowohl macOS als auch MS Windows unterstützen VF auf Betriebssystemebene. Adobe unterstützt VF in Illustrator, Indesign und Photoshop. Andere Softwareprodukte ziehen nach. Wie erwähnt ist die Anwendung von VF im Web gegenwärtig am interessantesten, da fast alle Browser VF unterstützen. Ich erwarte, dass über kurz oder lang VF so »normal« werden, wie es Opentype-Fonts sind.

 

print.de: Nach welchen Kriterien wird im Fontwerk entschieden, ob ein Font ein Variabel Font wird oder nicht?

Ivo Gabrowitsch: Das entscheiden wir von Fall zu Fall. Da unsere Designerinnen und Designer viele Freihei- ten haben, hängt das bisher auch davon ab, ob sie Interesse an dieser Mehrarbeit haben bzw. den gestalterischen Mehrwert sehen. Übrigens Mehrarbeit dann, wenn es nicht von vornherein berücksichtigt wurde, was bei einigen unserer ersten Schriften noch der Fall war. Wir wollten erst einmal ein umfangreiches und abwechslungsreiches Angebot zum Start des Labels haben. Das war letztlich eine Prioritätenfrage. Diese Sicht auf die Dinge kann man sich momentan noch erlauben, da Variable Fonts noch am Anfang stehen. Künftig werden wir mehr und mehr VF produzieren und auch einige der veröffentlichten Schriften nachträglich damit ausstatten.

 

print.de: Werden Variable Fonts irgendwann sogar technischer Standard?

Ivo Gabrowitsch: Von technischem Standard würde ich noch nicht reden. Auch bietet sich nicht jede Schrift dafür an. Aber sofern wir die Chance haben, früh in den Designprozess einzuwirken, raten wir in der Regel zum Design via VF.

 

print.de: Für den Umgang mit VF braucht es gute typografische Grundkenntnisse. Also sind VF eher etwas für Profis? Jedenfalls nichts für jedermann/frau – dies genau suggeriert aber das einfach erscheinende Arbeiten mit Reglern.

Ivo Gabrowitsch: Ja und nein. Wie bereits erwähnt, kann die spielerische Komponente ja auch weniger erfahrenen Gestalterinnen und Gestaltern helfen, Typografie erlebbar und damit leichter zugänglich zu machen. Natürlich muss man das wollen. Wenn man sich zudem nicht vorstellen kann, warum es beispielsweise sinnvoll sein kann, Ober- und Unterlängen variieren zu können oder Zeichenformen mittels Regler offener gestalten zu können, kann das auch verwirrend oder abschreckend wirken. Das Ganze dürfte mit besseren User-Interfaces aber verständlicher werden. Auch konkrete Anwendungsfälle, die schon vermehrt zu sehen sind, werden für Aha-Effekte und damit ein wachsendes typografisches Verständnis sorgen. Ich bin optimistisch, dass Variable Fonts den Zugang zu typografischem Wissen eher erleichtern werden. [13583]

 

 

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