Vor einem Jahr veröffentlichte das World Printers Forum der WAN-IFRA einen Bericht über die Reichweitenunterschiede zwischen den gedruckten und den Online-Ausgaben von 51 US-amerikanischen Regionalzeitungen. Die Untersuchung ergab, dass trotz sinkender Auflagen Print deutlich vorne lag, und zwar in allen Altersgruppen.
Aber Reichweite ist nur ein Aspekt des Erfolgs einer Publikation. Wichtig ist nicht nur, wieviele Leser erreicht werden, sondern wie intensiv sie sich mit dem Nachrichten-Produkt befassen. Eine Messgröße dafür ist die Zeit, die Nachrichtenkonsumenten beim Lesen der Nachrichten auf den verschiedenen Plattformen aufwenden.
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Daher wurde eine zweite Studie erarbeitet, die sich genau diesem Thema widmet. Diese Studie basiert auf Daten über Zeitungen mit regionaler und nationaler Verbreitung in Großbritannien. Der Autor, Dr. Neil Thurman, ist Professor für Kommunikation am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Er kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass „Print-Leser wesentlich loyaler und aufmerksamer sind als ihre Online-Äquivalente“. Thurman erklärt seinen Fokus auf den Maßstab der „Lesezeit“ (Time Spent) damit, dass dieser Parameter es erlaubt festzustellen, wie aussagekräftig die Zeitungsreichweite tatsächlich ist.
Der Autor zeigt, dass die Zeit, die britische Nachrichtenkonsumenten im Jahr 2016 beim Lesen von einer großen regionalen und sieben nationalen britischen Nachrichtenmarken aufwandten, zu 86 Prozent auf die gedruckten Zeitungen und nur zu 14 Prozent auf die Online-Ausgaben entfiel. Seine Untersuchung belegt einen erheblichen Unterschied in der Aufmerksamkeit von Online- und Print-Lesern: „Die Leser der werktäglichen Printausgaben der Zeitungen verbringen durchschnittlich 40 Minuten mit jeder Ausgabe, während die Online-Ausgaben dieser Zeitungen weniger als 30 Sekunden pro Besucher und Tag besucht werden.“
In einer Längsschnittanalyse der Jahre 1999 bis 2016 zeigt sich erwartungsgemäß ein Rückgang der Printauflage und damit verbunden auch ein Rückgang des Zeitaufwands beim Lesen von Zeitungsmarken. Damit stellt sich die Frage, ob die beim Lesen von Online-News aufgewandte Zeit die Verluste aus dem Printbereich ausgeglichen hat. Für die meisten Zeitungen ist das nicht der Fall. Basierend auf einer Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Alter der Leser und ihrem Leseverhalten kommt die Studie zu dem Schluss, dass die digitale Verbreitung es den Zeitungsmarken zwar ermöglicht hat, ein jüngeres Publikum zu erreichen, dass jedoch die nur flüchtige Aufmerksamkeit derjenigen, die über PCs und mobile Geräte auf Zeitungsinhalte zugreifen, die Verjüngungseffekte der digitalen Distribution verwässert. Der Autor untersucht auch den Ausnahmefall der Zeitung „The Independent“, die im März 2016 die Produktion ihrer Printausgabe einstellte und ausschließlich auf die Verbreitung durch digitalen Medien umstieg. Der Rückgang der Gesamt-Lesezeit der Marke nach dem Wechsel betrug sagenhafte 81 %.
Zusammenfassend stellt die Studie fest: Der Maßstab der aufgewendeten Lesezeit trägt dazu bei, Missverständnisse darüber auszuräumen, inwieweit die Verarbeitung von Nachrichteninhalten über digitale Medien die Leser wirklich anspricht und das Medium der gedruckten Zeitung ersetzt. Die Feststellung der Financial Times ist: „Zeitbasierte Metriken legen Wert auf Qualität statt Quantität, echte Leserbindung statt Klicks.“ Die Loyalität und Aufmerksamkeit der Printleser und die damit verbundene hohe Wirksamkeit der gedruckten Zeitung als Medium für redaktionelle und Werbeinhalte werden von Vielen bei ihren Digitalisierungsbestrebungen übersehen.
Verleger sollten sich von der unübertroffenen Fähigkeit ihres Druckproduktes anregen lassen, von den über Jahrhunderte verfeinerten grafischen Gestaltungsmöglichkeiten, der darin enthaltenen Erfahrung und dem Streben nach Perfektion. Es ist kein Zufall, dass auf Papier gedruckte Informationen beim Leser tiefere Eindrücke hinterlassen und leichter erinnert werden.
Am Ende des Berichts diskutiert der Autor die Frage, ob die Ergebnisse seiner Forschung, basierend auf britischen Daten, allgemein anwendbar sind, und kommt zu dem Schluss: „Ich würde erwarten, dass die Zeitspanne zwischen den Print- und Online-Ausgaben in vielen anderen Märkten noch größer sein wird.“