Mit der Druckindustrie hatte Christian Weyer ursprünglich keinerlei Berührungspunkte. Heute ist die Ehrfurcht vor der Branche groß, Weyer kennt als Softwarespezialist inzwischen jeden Prozessschritt in der Wertschöpfungskette Print in- und auswendig. Aber der Quereinsteiger hebt auch mahnend den Zeigefinger, die Digitalisierung doch bitte endlich ernst zu nehmen.
Im Fokus: Digitalisierung der Druckindustrie
Die Frage hat er sicherlich schon hundertmal gehört – und trotzdem ist sie immer wieder ein Schmunzeln wert: „Warum bist Du eigentlich in der Druckindustrie gelandet?“ Christian Weyer ist ursprünglich Mediziner – und aus ihm wäre sicherlich ein erfolgreicher Anästhesist geworden, wenn da in den Krankenhäusern nicht dieses „analoge Arbeitsumfeld mit miesen Prozessen und sehr hierarchischen Strukturen“ gewesen wäre. „Das passte einfach überhaupt nicht zu meiner Persönlichkeitsstruktur und vor allem auch nicht zu dem, wie ich über effiziente Arbeitsabläufe und ein Miteinander im Job denke“, schüttelt Weyer den Kopf. Nichtsdestotrotz steht er dem Berufsbild Arzt (nach abgeleistetem Zivildienst beim Rettungsdienst und langjährigem Medizinstudium) natürlich immer noch sehr nahe.
Durchgesetzt hat sich bei der Berufswahl aber letztlich seine eigentliche Liebe, sein langjähriges Hobby: Computer, Informationstechnik und Programmierung. Denn schon als Achtjähriger machte er seinem großen Bruder ständig den PC streitig; zu einem Informatikstudium kam es nach dem Abitur nur deshalb nicht, weil er „einfach überhaupt nichts mit Mathematik anfangen konnte“.
Der glückliche Zufall
So stieg Christian Weyer in die Softwarefirma eines Kumpels aus Kindertagen ein (Crispy Mountain GmbH), die cloudbasierte Lösungen für Business-Kunden programmierte und sich im Cargo/Luftfrachtbereich bereits einen Namen gemacht hatte. Irgendwann im Laufe der Zeit kam dann eine Druckerei mit der Anfrage auf das Unternehmen zu, ob Crispy nicht ein modernes MIS mit offenen Schnittstellen „bauen“ könne, das möglichst einfach in die bestehende Softwarelandschaft integrierbar ist. Schnell wurde klar: Dies ist eine größere Aufgabe – aber aus dem Einzelprojekt könnte schnell eine ganze Branchenlösung werden. Und so wurde „Keyline“ geboren.
„Die Branche fasziniert mich
und ich bin glücklich, dass ich
hier gelandet bin.“
Der Rest ist Geschichte: Keyline wird heute europaweit von 40 Klein- und Großdruckereien eingesetzt, Crispy Mountain wurde von der Heidelberger Druckmaschinen AG übernommen und sorgt heute als Tochterfirma Zaikio mit der gleichnamigen offenen Branchenplattform für mehr Digitalisierung, Produktivität und zentrale Vernetzung in der Druckindustrie. „Dass ich ausgerechnet in der Druckbranche gelandet bin, war also reiner Zufall“, ist sich Christian Weyer bewusst. „Aber ein glücklicher. Denn es macht mir einfach total Spaß, Datenstrukturen zu schaffen, die es Druckereien möglichst effizient ermöglichen, ein physisch greifbares Produkt herzustellen!“
Print – das „bewusste Medium“
Wenn Christian Weyer Software „baut“, dann ist das eigentliche Programmieren nur die letzten 30% der Aufgabe. „Bei den 70% davor geht es im Prinzip immer darum zu verstehen, was der Kunde eigentlich macht“, berichtet der engagierte Code-Schreiber, der privat zwischen den „Extremen“ Apple-Music-Abo und Analog-Schallplattenspieler, zwischen täglicher Getriebenheit am PC/Tablet und dem Hardcover-Buch als „Quality Time“ lebt. „Das Buch“, so Weyer, „ist sowieso ein unheimlich interessantes handwerkliches Produkt. Der komplexe Prozess, der hinter seiner Fertigung steht, ist brutal spannend!“
Aber ist es ein Auslaufmodell? Christian Weyer: „Ach was! Auch wenn ich wirklich ein absoluter digitaler ‚Techie‘ bin und gewisse Kategorien von Printprodukten sicherlich ausgedient haben (Frage: Wer braucht in dieser Welt zukünftig noch Fahrkarten, Konzertkarten etc.? Auch unter Umweltaspekten?): Aber wertige, haptische oder visuelle Highlights wie Bücher, Verpackungen oder XXL-Werbung werden nicht verschwinden. Denn das besondere, emotionale Produkt ist in der Regel analog, auch weil hier die Möglichkeiten der Ansprache vielfältiger sind als (derzeit) im Digitalen. Und es ist ein Entschleuniger, in einer Welt, in der durch die Digitalisierung die Geschwindigkeit unsere Gehirne zunehmend überfordert!“
Print sollte nicht krampfhaft
versuchen, digital zu sein.
Und wie könnte eine optimale Symbiose aus analoger und digitaler Welt aussehen? Bisher ist Weyer so etwas noch nicht untergekommen, der Medienbruch sei auch mit QR-Codes oder AR-Anwendungen immer noch zu groß. „Aber muss Symbiose überhaupt sein? Ich habe ja auch ganz bewusst Vinyl und einen Röhrenverstärker zuhause, will bewusst die Unreinheiten, aber eben auch die Wärme im Sound haben! Und noch mehr gilt dies aus besagten Gründen auch für den Druck: Print sollte nicht krampfhaft versuchen, digital zu sein, braucht sich keinesfalls zu verstecken! Die Branche macht jährlich 400 Milliarden US-Dollar Umsatz weltweit. Das ist deutlich mehr als die gesamte Gaming-Industrie!“
Resilient gegen Veränderung?
Und trotzdem warnt der Softwarespezialistspeziell die deutschen Druckerei-Manager: Das Digitalisierungs-Thema in der Branche gehe nicht „einfach so“ vorbei, für den Erfolg müsse auch mal wieder ein Risiko eingegangen werden. „Es gibt kein ‚Weiter so‘ mehr, kein Ausruhen auf den Erfolgen der Vergangenheit. Dass neue Ideen so häufig vorschnell als Blödsinn abgetan werden, ist auch gefährlich. Ich kenne schon Lieferanten, die mit uns prinzipiell keine Innovationsprojekte in der DACH-Region mehr starten wollen, weil es sich dort aufgrund von verkrusteten Strukturen einfach nicht mehr lohnt. Das finde ich alarmierend!“ Zu dieser Lage trage in Deutschland auch ein übertriebener Perfektionismus bei. „Eine Lösung ist dann gut“, so Weyer weiter, „wenn sie 60% meiner Zeit automatisiert. 100% wird es sowieso nie geben. Und 80% Druckqualität sind ebenfalls völlig ausreichend für ein Printprodukt. Die meisten Endkunden können 80% von 100% sowieso nicht unterscheiden!“
Die Herangehensweise an Neues, so die Beobachtung von Christian Weyer, ist im Ausland, vor allem im Angloamerikanischen, völlig anders. „Dort ist die Vertrauensbatterie gegenüber dem Innovator anfangs voll und wird erst leerer, wenn dieser den Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Ist die Batterie leer, ist man raus. In Deutschland kommt man erstmal gar nicht rein, muss erst beweisen, dass man es wert ist, bevor einem überhaupt vertraut wird. Null Vertrauensvorschuss also, das bedeutet aber auch maximalen Zeitverlust bei der Implementierung neuer Ideen.“ Hilfreich könnten da Quereinsteiger im Unternehmen sein, die einzigartige Sichtweisen von außen auf Prozesse liefern. Denn nur in den seltensten Fällen habe man in einem traditionellen Handwerksbetrieb eine Kultur der Prozesshinterfragung. Dies aber sei der „Tod jeglicher Innovation“.
Die Digitalisierung „umarmen“
Wie viele andere auch ist sich Christian Weyer sicher, dass in den nächsten 50 Jahren noch zahlreiche Technologien auf uns zukommen werden, von denen wir heute noch gar nichts ahnen. Nichtsdestotrotz ist er absolut davon überzeugt, dass es den Kern von all dem, was man heute druckt, auch dann noch geben wird. Alles, was die physikalische Welt ausmacht: Bücher, Verpackungen, intelligente Verpackungen, in Verpackungen integrierte Anleitungen, Printed Electronics etc. „Es wird nicht alles volldigitalisiert werden, das ist Unsinn! Außerdem gibt es immer zu jeder Bewegung eine Gegenbewegung. Das sieht man doch heute schon in so vielen Bereichen. Und im Druck wird es dann eben irgendwann nur noch 500 Druckereien statt 6.000 geben – aber eben vollautomatisiert und in deutlich größeren Komplexen organisiert.“
Digitalisierung muss
FÜR den Menschen arbeiten!
Mit Blick auf die Digitalisierung wird Weyer am Ende fast etwas philosophisch: „In seiner Kapitalismuskritik hat Karl Marx bemängelt, dass Arbeiter repetitive Handgriffe ausführen und sich so vom Produkt der Arbeit entfremden. Aus meiner Sicht ist das, was wir durch die Computer in den letzten 30 Jahren geschaffen haben, das mentale Äquivalent zu diesem Gedanken! Wir vollziehen viel zu viele repetitive geistige Tätigkeiten. Damit muss endlich Schluss sein!“
Digitalisierung helfe dabei, dass Menschen ihre Kreativität wieder besser ausspielen können. „Daten semantisch in Ordnung zu bringen, Systeme zu bauen, die miteinander kommunizieren können – und obendrüber ein ansprechendes User Interface, das so viel von der Komplexität abstrahiert, wie nur irgend möglich: Nur so geht‘s.“ Denn: „Digitalisierung muss FÜR den Menschen arbeiten!“
Christian Weyer ist Co-Geschäftsführer bei der Zaikio GmbH – einer Softwareschmiede, die versucht, in der Druckindustrie eine zentrale, offene Branchenplattform für automatisiertes Lieferanten- und Kundenmanagement zu etablieren.
Das Porträt von Christian Weyer gehört zu einer Reihe von Interviews und Geschichten über „Menschen in der Druckindustrie“. Unter diesem Titel erzählen zehn Menschen aus der Branche über das, was sie an der Druckbranche fasziniert und was sie bewegt.
Das Porträt von Christian Weyer sowie neun weitere Menschen, deren Herz für Print schlägt, finden Sie in Ausgabe 16/2021 von Deutscher Drucker. Die gesamte Ausgabe steht im print.de-Shop zur Verfügung.