Wer es noch nicht wusste, weiß es seit wenigen Tagen! Unser Wirtschaftsminister hat erklärt, dass der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung unter 25% liegt und dass künftig Großunternehmen durch eine „Nationale Industriestrategie“ geschützt und unterstützt werden sollen. Die 25%-Marke soll wieder übertroffen werden. Welche Traditionsunternehmen vom Staat beschützt werden, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Firmen aus der Druckindustrie stehen mit Sicherheit nicht auf der Liste.
Wo sind aber die restlichen 75% der Arbeitnehmer tätig? Vielleicht auch im Druckhandwerk? Nein, denn das gesamte Handwerk zählt mit der Industrie zum Sekundärsektor, es ist in den 25% bereits enthalten. Dann vielleicht im Primärsektor? Dazu zählen Land- und Forstwirtschaft sowie die Fischerei. Dass offene Stellen in diesen Branchen mit ehemaligen Industriearbeitern besetzt wurden, ist schwer vorstellbar. Die beruflichen Qualifikatio-
nen zwischen Agrarwirtschaft und Industrie sind einfach zu verschieden und im Agrarsektor arbeiten gerade noch 1,7 Prozent der Arbeitnehmer. Hier hat bereits ein Schrumpfungsprozess stattgefunden, dem sich nun die Industrie ausgesetzt sieht.
So bleibt nur der Tertiärsektor als Auffangbecken. Welche Branchen in diesem stetig wachsenden und mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Segment vertreten sind, ist aufgrund der Komplexität der Geschäftsmodelle vielschichtig. Der wichtigste Unterschied zur Industrie ist: Es fallen keine Produkte vom Fließband. Fließbänder gibt es auch im Tertiärsektor, man denke nur an Paketverteilzentren. Die Pakete auf den Bändern werden allerdings nicht produziert, sondern sortiert. Ebenso bezeichnet man auch die Arbeitsergebnisse im Tertiärsektor als Produkte, als immaterielle Produkte. Dienstleistungen werden daher im allgemeinen Sprachgebrauch mit größter Selbstverständlichkeit produziert. Würde man umgekehrt behaupten, Produkte dienstleisten zu wollen, würde man wohl ein müdes Lächeln ernten.
„Unternehmen müssen sich entscheiden, ob sie sich als Produzent
oder Lösungsanbieter positionieren wollen.“
Die Branchen mit den meisten Arbeitnehmern im Tertiärsektor sind der Handel, die Logistik, Banken und Versicherungen, das Gastgewerbe usw. um nur einige zu nennen. Da immer wieder reklamiert wird, dass sich nicht alle die Haare schneiden können, um in der Industrie wegfallende Arbeitsplätze zu kompensieren, sei angemerkt: Friseure gehören nicht zum Tertiärsektor. Sie sind keine Dienstleister, sondern Handwerker, die sich nur selbstständig machen dürfen, wenn sie die Meisterprüfung abgelegt haben und in der Handwerksrolle eingetragen sind. Dass Verkäufer, LKW-Fahrer, Taxifahrer, Kellner, Paketzusteller – um nur einige Arbeitnehmergruppen im Tertiärsektor zu nennen – als Dienstleister bezeichnet werden, ist auch falsch. Haben Menschen im beruflichen Umfeld regelmäßig Kontakt zu Kunden, um ihnen etwas anzubieten, sie zu befördern, ihnen etwas zu bringen usw., dann sind sie noch lange keine Dienstleister, sondern Sachleister. Dienstleister sind Ärzte, Anwälte, Berater, Pfleger usw., die keine Sachen anbieten, sondern produktunabhängig ihren Rat und ihre Hilfe. Sachleistungen dagegen basieren auf technischen und materiellen Ressourcen, mit denen Lösungen realisiert werden. Der Dienstleister-Einsatz wird daher honoriert, der von Sachleistern entgolten. Die wenigsten Arbeitnehmer im Tertiärsektor sind also Dienstleister, die meisten sind Sachleister. Gemein ist beiden Gruppen die Interaktion mit Kunden, Gästen, Patienten, Klienten, Mandanten usw. Sach- und Dienstleister bedienen Menschen. Fabrikarbeiter Maschinen.
Übertragen auf die Druckbranche bedeutet dies, dass sich Unternehmen entscheiden müssen, ob sie sich als Produzent oder Lösungsanbieter positionieren wollen. Die Erfahrung zeigt, dass hier Fehler begangen werden. Es bleibt unklar, wer man ist. Druckunternehmen, die ihren Kunden online die Chance bieten, sich zu bedienen, sparen Kosten für Akquisition und Beratung. Sie positionieren sich als Kostenführer und produzieren Produkte. Druckunternehmen, die sich als Lösungsanbieter positionieren, erzeugen auf Basis von Werkverträgen Sachleistungen. Dies sind Lösungen, die ein Problem beseitigen. Ein Problem ist nicht gelöst, wenn der Kunde Teilleistungen selbst koordinieren muss. Ein Installateur, ein Fliesenleger, ein Maurer mögen ihre Leistungen noch so gut erbringen. Die eigentliche Lösung ist das Bad und nicht eine Vielzahl an Einzelleistungen. Dies gilt ebenso für komplexe Erzeugnisse, die auch Druckerzeugnisse als Teilleistung beinhalten. Lösungsanbieter müssen über den Tellerrand hinaus denken und nicht nur die Bedürfnisse eines Kunden im Auge haben, sondern auch die Interessen der Kunden der Kunden. Probleme wirklich zu erkennen, um Lösungen zu suchen, ist eine Aufgabe, die Verkäufertypen überfordern. Auf dem Weg zum Lösungsanbieter findet daher in der Regel ein Austausch von etwa 50% der Verkäufer im Innen- und Außendienst statt. Eine spürbar neue Unternehmenskultur steht am Ende dieses Prozesses.
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Bernhard Maatz (68) ist Gründer und Mehrheitsgesellschafter der Symbio Consult GmbH. Der gelernte Industriekaufmann studierte Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Marketing. Nach 40 Berufsjahren – auch in der Druckindustrie – ist er ein Experte auf dem Gebiet Unternehmensneuausrichtung, Organisationsentwicklung und Handlungskompetenz.